Von Kuh bis Küche: Kontrollverlust im System der Milchviehhaltung

Analyse

Immer wieder kommt es zu Skandalen in der deutschen Milchindustrie - verdreckte Ställe, zu wenig Platz, kranke Tiere. Dabei sind landwirtschaftliche Produktionsprozesse in Deutschland theoretisch gut organisiert und kontrolliert. Journalistin Ruth Schalk ist dem System der Milchviehhaltung nachgegangen.

Milchkühe im Stall

Im Jahr 2014 gab es rund 76.500 Viehhalter mit insgesamt fast 4,3 Mio. Milchkühen, einer im Norden schoss auffällig quer. Dieser Milchviehhalter aus Dithmarschen in Schleswig-Holstein kassierte eine strafrechtliche Verurteilung wegen Vergehens gegen das Tierschutzgesetz und 2019 ein unbegrenztes Tierhalteverbot dazu. Der Bauer hatte seine 750 Kühe so stark vernachlässigt, dass ein Gros der Tiere fast verhungert ist. Das wurde deutlich bei einer von den zuständigen Amtsveterinären verhängten Razzia auf seinem Hof, kurz vor Weihnachten 2014. Es stellten sich den ermittelnden Beamten erschreckende Bilder. Zu wenig Liegeflächen, völlig verdreckte Ställe und einer Kuh war der Schädelknochen gerissen, da ihr Horn knapp oberhalb der Augenhöhle eingewachsen war. Alleine daran lässt sich ein Jahre langes Martyrium ablesen. Dabei sind die landwirtschaftlichen Produktionsprozesse in Deutschland in der Milchviehhaltung theoretisch gut durchorganisiert und durchlaufen automatisch mehrere klassische Kontrollstufen:

Die erste Kontrolle erfolgt immer durch den praktischen Tierarzt vor Ort. Wenn in einem Milchviehbetrieb etwas nicht der ordentlichen bäuerlichen Landwirtschaft entspricht, dann sollte dieser das erkennen. So hätte er z.B. sehen müssen, dass die Kälber falsch untergebracht waren. Sie standen auf einem Spaltenboden für erwachsene Rinder, über 2,5 cm Spaltenbreite. Mit ihren zarten Beinen sind sie durchgerutscht, verletzten sich und hingen im eigenen Kot, in der Gülle, fest. Die Tränken waren durchweg verschmutzt und das Wasser alt und unsauber, wodurch einige Kälber Durchfall bekamen und daran starben. Viele Tiere lahmten, einige lagen fest und wurden nicht mit Wasser versorgt, Euter waren entzündet.

Zeitgewinn für Fürsorge nutzen

In modernen Betrieben, ab etwa 100 Kühen, ist die Stallfläche in die Funktionsbereiche Fressen, Liegen und Laufen aufgeteilt. Gemolken wird am Roboter und Kraftfutter erhalten Kühe computergesteuert im Melkstand und an Kraftfutterstationen. „Der Landwirt hat dies alles zu überwachen und seine Zeit in die Kontrolle und Beobachtung seiner Tiere zu investieren. Die gewonnene Zeit sollte für „Fürsorge“ genutzt werden,“ erklärt Dr. Christine Bothmann vom Bundesverband der beamteten Tierärzte e.V. BbT.

Veterinärkontrollen nur alle 48 Jahre

Die Tiere des Bauerns in Dithmarschen wurden über 10 Jahre lang vernachlässigt und schlecht behandelt. Wie war es nur möglich, dass bei den Amtstierärzten keine Auffälligkeiten gemeldet wurden? Eine vertrauliche Kommunikation und eine sensible Zusammenarbeit mit den Hoftierärzten, hätte das Leid beenden können.

Einige Kolleginnen aus den Reihen der praktischen Tierärzte stehen den Betriebsinhabern nahe. Diese bezahlen die Rechnung - nicht die Kühe. Aber auch Tierärzte, die für den Staat arbeiten und eine Garantenstellung für Tierschutz innehaben, fühlen sich den Tierhaltern immer wieder zu nahe, erläutert Dr. Madeleine Martin, hessische Landestierschutz-beauftragte und ehemalige Amtstierärztin. Sie kennt derartige Fälle aus ganz Deutschland.

Eine amtstierärztliche Begehung bei konventionellen Betrieben ist nicht planmäßig vorgesehen, obwohl gemäß Cross Compliance Betriebe bei der Beantragung von Agrarsubventionen Stichproben-Kontrollen unterliegen.  In 2 Fällen in Hessen, die sich über rund 10 Jahre hinzogen, war Martin gutachterlich tätig, und alleine durch die hohe Kälbersterblichkeit, aber auch durch den Tod vieler erwachsener Rinder auffielen. In beiden Betrieben wurden erst nach einer Anzeige mit Filmdokumenten von einem Tierschutzaktivisten die Tierhaltung aufgelöst. Beide Betriebe erhielten in dieser Zeit ihre EU Subventionen, über 10 Jahre fast eine halbe Mio. Euro - ohne jeden Abzug aufgrund der miserablen Tierhaltung. Schockierend, dass das Verfahren gegen die zuständigen Kollegen – obgleich ein Gutachten zum Fehlverhalten von einem dafür hinzugezogenen Sachverständigen vorlag, nach 8 Jahren eingestellt wurden. Ähnliches geschah auch wieder in Baden-Württemberg. Amtstierärzte im Schlachthof, sahen offenkundig seelenruhig massiven Tierquälereien zu und schritten nicht ein. Das Verfahren gegen sie wurde gerade eingestellt. Die von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Gründe befremden

Die behördlichen Kontrollen für Tiergesundheit in Ställen werden jedoch erstaunlich ‚schlampig‘ gehandhabt: In Bayern werden, laut Statistik des Bundeslandwirtschaftsministeriums Juli/2018  (S. 6), die Nutztiere am seltensten kontrolliert. Alle 48 Jahre muss hier ein Landwirt mit einer Kontrolle des Veterinäramtes rechnen. Ebenso selten werden Vor-Ort-Besuche von Amtsveterinären in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt erwähnt, wo die Zahlen zwischen erschreckenden 20 bis 37 Jahren liegen. Die Kontrolldichte ist vielfach ein Witz. In Brandenburg kommt immerhin schon alle 16,4 Jahre mal einer vorbei. Berlin ragt mit 2,6 Jahren deutlich positiv heraus, aber da gibt es ja auch kaum Tiere. Ein Grund hierfür läge an der notorischen Unterbesetzung an Fachpersonal in den Behörden.

Biobetriebe mit jährlichen, unangekündigten Kontrollen

In Biobetrieben wird einmal jährlich unangekündigt kontrolliert, was den Tieren einen gewissen Schutz garantiert. Für alle Betriebe gibt es eine digitale Vor-Kontrolle. „Solche Szenarien könnten durch die technische Unterstützung, also Auswertung der HIT-Rinderdatenbank erkannt und verhindert werden. An Hand der überhöhten Kälber-Sterblichkeitsrate hätte die zuständige Behörde aufmerksam werden müssen,“ bemerkt Bothmann. Der Hof wurde schließlich auffällig durch eine Kälbersterblichkeitsrate von über 50% und eine lückenhafte Buchführung. „In gut geführten Betrieben kann eine Kälbersterblichkeitsrate von lebend geborenen Kälbern unter fünf Prozent erreicht werden“, sagt die Sprecherin des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft BMEL, Silke Brand.

Folgen der BSE-Krise

Jedes Kalb muss ordnungsgemäß bis zum 7. Tag in der Rinderdatenbank eingetragen werden. Die Eintragung erfolgt durch den Landwirt, die Kontrolle durch die Behörden.

Das Herkunfts- und Informationssystem HIT, wurde im Zuge der BSE Krise ins Leben gerufen, um 2006 entsprechend der Viehverkehrsverordnung eine Rückverfolgung der Tiere zu gewährleisten und so eine Ausbreitung von Seuchen zu verhindern. Das soll jetzt per Gesetz noch weiter ausgebaut werden. „Zukünftig sollen nicht nur Kühe, sondern auch neugeborene Kälber und einige andere Nutztiere per Änderungsbeschluss von der Geburt bis zum Tod grundsätzlich und unverwechselbar mit Ohrmarken gekennzeichnet werden,“ erklärt Bothmann.

„Arge Tortur“

Weibliche Kälber sind für die Nachzucht von Nutzen. Männliche Kälber sind in der Milchviehhaltung, ähnlich wie bei den Bruderhähnen, meistens über. Viele Milchviehbetriebe verkaufen die männliche Nachzucht nach 14 Tagen, für wenig Geld oder gar mit Verlust, an Viehhändler für Mastviehbetriebe oder zum Weitertransport in andere Länder. „Sowohl für Kuhmütter als auch für die kleinen Kälber eine arge Tortur. Zumal es oft keine Vorsorgestationen gibt und also keine ausreichende Versorgung auf den Transporten gewährleistet werden kann,“ bemängelt Dr. Michael Mahahrens vom Friedrich-Löffler-Institut für Tiergesundheit. „Es gibt leider keine Länderübergreifende Regelung für Tiertransporte, weder in Deutschland noch in der EU. Das ist sehr unbefriedigend!“  Alternativ gibt es Betriebe, die eine muttergebundene Milchwirtschaft betreiben, leider nur wenige.

Versagen der Milch- und Schlachthofkontrollen?

Eine dritte Kontrolle nach Tierarzt und HIT Liste erfolgt an der Milch. Die A durch die Milch-Tests bei jeder Abholung durch die Molkerei noch auf dem Hof durchgeführt werden, und B durch Proben von der Molkerei, die in ausgelagerten Instituten untersucht werden. Die Ergebnisse müssen durch die entzündeten Euter bei dem Dithmarscher Landwirt über Jahre mit erhöhten Werten aufgefallen sein und hätten der zuständigen Behörde gemeldet werden müssen. Im Schlachthof sollen zudem die Tiere von Tierärzten oder amtlichen Fachassistenten am Schlachtband begutachtet werden. Sind die Tiere in einem schlechten Allgemeinzustand, haben Liegestellen oder gar Brüche muss das gemeldet werden. Abgesehen von den Misshandlungen, ist das Fleisch auch von schlechterer Qualität und somit weniger wert.

Ende April, Anfang Mai gab es nach Hinweisen verstärkte Kontrollen in Schlachthöfen in Niedersachsen mit erschreckenden Ergebnissen. Aufgrund von Corona wurde von weiteren Untersuchungen erstmal abgesehen. Jan Peifer, vom Deutschen Tierschutzbüro hält das für widersinnig und ist entsetzt, dass damit die notwendigen Kontrollen wieder flachfallen.

Vierte Kontrollebene

Die Milcherzeugung ist eine tragende Säule der deutschen Landwirtschaft. 33,1 Millionen Tonnen Kuhmilch wurden 2019 hierzulande erzeugt, rund ein Fünftel der in der EU erzeugten Milch, was Deutschland zum größten Milcherzeuger der EU macht. Da gibt es schon mal ‚natürlich‘ verendete Tiere auf jedem Hof. Wenn die Sterberate auffällig hoch ist, dann läuft das bei der Tierkörperbeseitigungsanlage auf und wird weiter geleitet an die zuständigen Behörden, als eine Art vierte Kontrolle.

Bio-Milch: Höhere Tierschutzstandards durch klar definierte Haltungsbedingungen

Starke Zuwächse, allerdings noch auf recht geringem Niveau gibt es bei der Bio-Milch. 2019 lieferten Biolandwirte knapp 1,2 Millionen Tonnen Milch an. Der Bioanteil an der Gesamtanlieferungsmenge von Kuhmilch in Deutschland erreicht bislang nur knapp 3,7 Prozent, aber in 2018 zog die deutsche Bio-Milchproduktion um 19 % an. Die Kontrollen im Biobereich sind genauer und häufiger durch unabhängige Kontrollstellen und Amtstierärztliche Verbände bei Hinweisen. „EU-weit ist ein Anstieg der Bioproduktion zu verzeichnen“, sagt Martin Häusling, EU Abgeordneter und selber Milchviehhalter. „Das ist hilfreich, um auch höhere Tierschutzstandards durch klar definierte Haltungsbedingungen mit hohem Platzanteil pro Kuh, sowie vorgeschriebenem Weidegang zu gewährleisten.“

Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner habe gerade den Vorstoß des Landes Hessen zur Konkretisierung der Milchviehhaltung durch ein Verbot wenigstens der tierschutzwidrigen Anbinde Haltung von Rindern abgelehnt, so wie sie auch schon auf einen Bundesratsbeschluss dazu nicht reagierte, bedauert Martin.


Ruth Schalk ist Journalistin und hat außerdem einen gemeinschaftlich geführten Hof in der Magdeburger Börde mit bewirtschaftet. Sie befasst sich seit Jahren journalistisch intensiv mit Landwirtschaft, den Produktionsprozessen, dem Tierschutz und der Umwelt. Sie hat Reportagen in diversen Medien wie der FAZ und der taz veröffentlicht und führt einen Blog. Seit einigen Jahren recherchiert und publiziert sie zu den strukturellen Ursachen dieses Falles in Dithmarschen und hat auch alle bisherigen Prozesse in dieser Angelegenheit verfolgt.